Urteil zum Paritätsgesetz - Zusammenfassung

Urteil zum Paritätsgesetz - Zusammenfassung

Der Thüringer Verfassungsgerichtshof hat mit seinem Urteil vom 15.07.2020 das Siebte Gesetz zur Änderung des Thüringer Landeswahlgesetzes - Einführung der paritätischen Quotierung - vom 30. Juli 2019 für nichtig erklärt. Die AfD-Fraktion hatte im Rahmen einer abstrakten Normenkontrollklage gegen das Gesetz geklagt. Der Beschluss des Verfassungsgerichts ist dabei mit einem Votum von 6 zu 3 nicht einstimmig getroffen worden. Die Urteilsbegründung sowie die Sondervoten haben wir (für Euch?) hier zusammengefasst.

 

Begründung der Mehrheitsentscheidung:

Das Paritätsgesetz widerspreche der Thüringer Verfassung und dem hineinwirkenden Bundesverfassungsrecht. Durch dieses Gesetz werde in verfassungsrechtlich verbürgte subjektive Rechte eingegriffen, ohne dass diese  Beeinträchtigungen auf eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung gestützt werden können. Das Paritätsgesetz beeinträchtige das Recht auf Freiheit und Gleichheit der Wahl (Art. 46 Abs. 1 ThürVerf) sowie das Recht der politischen Parteien auf Betätigungsfreiheit, Programmfreiheit und Chancengleichheit (Art. 21 Abs. 1 GG). Die Richter befanden, dass das Paritätsgesetz die Freiheit der Wählerinnen und Wähler einschränke, auf die Verteilung der Geschlechter im Parlament durch die Wahl einer Liste Einfluss zu nehmen, auf der jeweils nur oder überwiegend Männer oder Frauen aufgeführt sind. Auf diese Weise werde eine bestimmte geschlechtsbezogene Zusammensetzung des Parlaments determiniert. Zudem sei es den Parteimitgliedern nicht möglich, einen Bewerber oder eine Bewerberin ganz unbesehen des jeweiligen Geschlechts zu wählen.

 Auch das Recht der passiven Wahlfreiheit sei durch das Gesetz beeinträchtigt. Aufgrund der Regelung, nach der die Liste - in einer Art „Reißverschlussprinzip“ - abwechselnd mit Frauen und Männer zu besetzen, werde die Freiheit eingeschränkt, sich auf einen konkreten Listenplatz zu bewerben, sofern dieser Platz aufgrund jener gesetzlichen Regelung mit einem Vertreter des jeweils anderen Geschlechts zu besetzen ist. Auch die Gleichheit der Wahl sei beeinträchtigt, da bei der Aufstellung einer Liste folglich Stimmen ihren Einfluss auf das Wahlergebnis und damit ihren Erfolgswert verlören, wenn diese für eine Frau oder einen Mann abgegeben werden, obwohl deren Kandidatur auf dem konkreten Listenplatz aufgrund des „Reißverschlussprinzips“ nicht zulässig war.

Zudem sichere die passive Wahlrechtsgleichheit eine chancengleiche Möglichkeit zur Kandidatur im innerparteilichen Aufstellungsverfahren; infolge des Paritätsgesetzes hätten jedoch die jeweiligen Bewerber und Bewerberinnen mit Blick auf die konkreten Listenplätze nicht mehr die gleichen Chancen, einen Listenplatz zu erringen. Für die Kandidaten, gleich ob Mann oder Frau, fielen jeweils die Hälfte der Listenplätze weg, auf die sie sich bewerben könnten, wenn es das Paritätsgesetz nicht gäbe.

Die Betätigungsfreiheit von Parteien werde durch das Paritätsgesetz beeinträchtigt. Die Parteien würden so gezwungen, das Personal, das über die Liste den Wählerinnen und Wählern vorgeschlagen werden soll, geschlechtsbezogen zu bestimmen. Neben der Betätigungsfreiheit werde auch die Programmfreiheit der Parteien beeinträchtigt, da das Gesetz Parteien daran hindere, Inhalte und Aussagen ihres Programms mit einer spezifischen geschlechterbezogenen Besetzung ihrer Listen zu untermauern. Darüber hinaus wirke sich das Gesetz auch für Parteien mit einer geringen Mitgliederanzahl benachteiligend aus, denn für sie bestehe die Gefahr, dass sie nicht alle Listenplätze besetzen und damit weniger Kandidatinnen oder Kandidaten in ein Parlament bringen können, als sie dies ohne das Paritätsgesetz tun könnten.

Nach Repräsentationsprinzip des Grundgesetzes vertrete jede und jeder Abgeordnete das gesamte Volk und sei diesem gegenüber verantwortlich. Die Abgeordneten sind nicht einem Land, einem Wahlkreis, einer Partei oder einer Bevölkerungsgruppe, sondern dem ganzen Volk gegenüber verantwortlich; sie repräsentieren das Volk grundsätzlich in ihrer Gesamtheit, nicht als Einzelne. Das von der Landesregierung begründete Gebot der tatsächlichen Widerspiegelung der in der Wählerschaft vorhandenen Meinungen, das eine gleichmäßige paritätische Aufstellung von Kandidatinnen und Kandidaten in den Wahlvorschlägen der Parteien, sei dem deutschen Verfassungsrecht fremd.

Schließlich zwinge die Entstehungsgeschichte der Thüringer Verfassung zu der Folgerung, dass der Verfassungsgeber mit der von ihm beschlossenen Regelung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf dem Gesetzgeber nicht die Möglichkeit eröffnen wollte, für die Organe und Einrichtungen des Freistaates paritätische Quotierungen einzuführen. Würde der Thüringer Verfassungsgerichtshof sich bei seiner Deutung und Anwendung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf darüber hinwegsetzen, überschritte er die ihm durch die Verfassung übertragenen Kompetenzen und legte dieser Verfassungsnorm einen Gehalt bei, um den sie nur im Wege einer Verfassungsänderung gemäß Art. 83 ThürVerf erweitert werden könnte.

 

Sondervotum Richterin Heßelmann:

Die Richterin hält das Gesetz nicht für verfassungswidrig;

hilfsweise könnten Mängel mit der Aufnahme von Ausnahmevorschriften oder abweichenden Regelungen zum Inkrafttreten geheilt werden. Die Wahlrechtsgrundsätze, auch derjenige der Gleichheit der Wahl und die Chancengleichheit der Parteien würden keinem absoluten Differenzierungsverbot unterliegen. Die mit Hilfe des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf geförderte Beteiligung von Frauen im Parlament sei sowohl verfassungsrechtlich legitimiert als auch von gleichem Gewicht wie die Wahlrechtsgrundsätze, in die eingegriffen werde. Anders als die Mehrheit des Gerichtshofes geht sie davon aus, dass der Wortlaut des Art. 2 mit hinreichender Deutlichkeit eine Grundlage für die angegriffene Regelung bietet. Dass eine gleichmäßige Verteilung der Parlamentssitze zwischen Frauen und Männern offensichtlich deren Gleichstellung dient, liege auf der Hand. Die Verpflichtung, paritätische Listen aufzustellen, „fördere“ die Gleichstellung. Der Wortlaut des Verfassungsauftrags stütze demnach den Erlass des Paritätsgesetzes. Auch spreche die Entstehungsgeschichte nicht gegen die Zulässigkeit der angegriffenen Regelung.

Zwar treffe es zu, dass Änderungsanträge zweier Fraktionen abgelehnt worden sind. Der Inhalt der abgelehnten Anträge sei jedoch in einem entscheidenden Punkt nicht mit der vorliegenden Regelung identisch. In diesen Anträgen werde die paritätische Besetzung aller staatlichen Gremien gefordert. Abgesehen davon, dass von dem Paritätsgesetz nur das Parlament betroffen sei, erziele es vorliegend keine Parität der Geschlechter im Parlament. Denn das Paritätsgesetz betreffe nur die Listenaufstellung, nicht die mindestens ebenso wichtige Verteilung der Direktmandate. Die Regelung des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG beinhalte einen Formelkompromiss, der erst durch die Entwicklung durch die Gesetzgebung und deren im Wahlrecht nicht unbeträchtlichen Gestaltungsspielraum konkrete Formen annehme. Das Paritätsgesetz bewirke im Ergebnis weder eine starre Quote, noch räume es Ergebnisgleichheit ein.

Dabei sei die Zusammensetzung des Parlaments als Ganzes in den Blick zu nehmen.  Ergebnisgleichheit werde zwar bezüglich der Listenaufstellung gem. § 29 Abs. 5 Thüringer Landeswahlgesetz erzielt (und damit enthalte die Norm auch eine „starre Quote“), dies treffe jedoch nicht zu, soweit es um die Wahl der Direktkandidatinnen und -kandidaten gehe. Hierdurch werde das Gesamtergebnis der Wahl modifiziert. Es sei Angelegenheit des Gesetzgebers, die Rechtsgüter der Wahlrechtsfreiheit und -gleichheit mit dem aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf folgenden Förderauftrag zugunsten der Frauen sowie mit Geboten integrativer Repräsentanz zum Ausgleich zu bringen. Das durch die Regelung geschützte Rechtsgut sei von gleichem Rang wie die Wahlrechtsgarantien.

Angesichts des Gewichts des Rechtsgutes der effektiven Beteiligung von Frauen am passiven Wahlrecht und einer entsprechenden Vertretung im Parlament seien Verstöße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht zu bejahen. Insbesondere sei der Gesetzgeber nicht gezwungen, weniger effektive Maßnahmen zu ergreifen und die Folgen einer nicht paritätischen Listenaufstellung abzumildern. Der Sinn des Gesetzes sei nicht auf eine dauerhafte Benachteiligung der Parteien mit geringem Frauenanteil gerichtet, sondern beabsichtige im Gegenteil die Herstellung der Chancengleichheit durch Erhöhung ihres Anteils. Für einige Parteien wäre daher die Einräumung einer Karenzzeit erforderlich, um ihnen die Möglichkeit zu geben, Frauen aus der Partei oder dem nahestehenden Spektrum zu gewinnen. Jedenfalls im Falle vorgezogener Neuwahlen sei eine nicht ausreichende Frist für die Parteien zu verzeichnen. Insoweit müsse der Gesetzgeber eine Änderung des Gesetzes herbeiführen, mit der den Parteien mindestens die Dauer einer regulären Legislaturperiode zur Verfügung bleibe.

 

Sondervotum der Richter*innen Licht und Petermann:

Entgegen der Ansicht der Mehrheit seien die durch das Paritätsgesetz bewirkten Beeinträchtigungen des Rechts auf Freiheit und Gleichheit der Wahl (Art. 46 Abs. 1 Thüringer Verfassung) sowie der Rechte der Parteien auf Betätigungsfreiheit, Programmfreiheit und Chancengleichheit (Art. 21 Abs. 1 Grundgesetz) durch Artikel 2 Abs.2 Satz 2 der Thüringer Verfassung gerechtfertigt. Die Mehrheit des Gerichts verkenne zunächst die tatsächlich existierende strukturelle Diskriminierung von Frauen in der Politik. Lege man nun ein materielles Gleichheitsverständnis als Maßstab zugrunde, zeige sich, dass Männer und Frauen gerade nicht gleichermaßen  teilnahmeberechtigt an der politischen Willensbildung sind, sondern Frauen vielmehr einer mittelbaren und strukturellen Diskriminierung ausgesetzt seien.

Der soziologische Begriff der strukturellen Diskriminierung sehe die Benachteiligung einzelner Gruppen, wenn diese in der Organisation der Gesellschaft begründet ist. Der Anteil weiblicher Mitglieder der im Landtag vertretenen Parteien in Thüringen betrage derzeit 31% bei einem Anteil der Einwohnerinnen Thüringens von 51,5%. Bei den Landtagswahlen in Thüringen betrug der Anteil der Bewerberinnen 47,2 %. Allein dies sei ein evidenter Beleg für die strukturelle Benachteiligung von Frauen, die in den Erwägungen der Mehrheit allerdings nicht gewichtig sei. Diese strukturelle Benachteiligung beruhe auf sozio-ökonomischen, institutionellen und politisch-kulturellen Faktoren, wobei auch die Sozialisation maßgeblich sei. Sie lege nahe, dass dieser Benachteiligung durch in den Verfassungen vorgegebene Mitteln und Instrumente nicht nur entgegengewirkt werden dürfe, sondern auch müsse.

Politik in ihrer institutionellen Form biete Frauen kaum geeignete Voraussetzungen für politisches Engagement. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass der arbeitsrechtliche Teil des Erziehungsurlaubsgesetzes und das Mutterschutzgesetz auf Abgeordnete nicht anwendbar sind. Mit den Auswirkungen dieser Regelungen im Freistaat habe sich der Thüringer Verfassungsgerichtshof jüngst in der Causa „Landtagsbaby“ befasst. Soweit Frauen ihre familiären Aufgaben genauso wichtig nehmen wie ihre Parteiaktivitäten, werde die Ernsthaftigkeit ihres politischen Engagements in Zweifel gestellt; wenn sie ihre Parteiaktivität höher gewichten, setzten sie sich dem Vorwurf aus, die Familie zu vernachlässigen. Zur strukturellen Diskriminierung zählten darüber hinaus die Rekrutierungsmuster für politische Karrieren, zu denen die Arbeit in lokalen Führungsgremien über einen längeren Zeitraum gehöre, was die Möglichkeit und Notwendigkeit „abwesend“ zu sein, nach sich ziehe. Dies verdeutliche, dass derartige Rekrutierungsmuster eher auf männliche Biografien abzielen. Die Mehrheit des Gerichts stütze die mangelnde Rechtfertigung der Eingriffe in die Wahlrechtsgrundsätze und die Chancengleichheit zentral auf die Entstehungsgeschichte, aus der sich ergäbe, dass „der Verfassungsgeber die Gleichstellungsverpflichtung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 ThürVerf nicht als Rechtfertigung für paritätische Quotenregelungen verstanden wissen wollte“. Dies sei nicht überzeugend, zeuge von einem statischen Verfassungsverständnis und lasse unberücksichtigt, dass bei der historischen Auslegung der objektive Sinngehalt der Norm, nicht der subjektive Wille des (historischen) Normsetzers entscheidend ist, auch wenn dieser berücksichtigt werden könne. Es würden weder Gründe für die seinerzeitige Ablehnung der Anträge im historischen Verfassungsprozess angeführt, noch berücksichtige die Mehrheit des Gerichts, dass zum Zeitpunkt der Entstehung der Verfassung die Grundgesetzänderung und die mit ihr verbundene Debatte noch nicht abgeschlossen war. Es bedürfe keiner weiteren Erörterung, dass die im ParitG verankerten Normen geeignet und erforderlich seien, die tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern in allen Bereichen des öffentlichen Lebens durch geeignete Maßnahmen zu fördern und zu sichern. Zudem würde ein Vergleich zeigen, dass schon bestehende Klauseln im Thüringer Landeswahlgesetz (zB Sperrklausel, Überhangmandate, Festlegung des Mindestwahlalters etc.) eingriffsintensiver seien, als die durch die Regelungen im ParitG bewirkten Eingriffe.