Bericht zum Verfassungskongress am 28.11.2022

Verfassungskongress 2022

Bericht grüner Verfassungskongress am 28.11.2022 in Weimar

Am 28. November 2022 fand unser verfassungspolitischer Kongress in Weimar statt. Ziel war ein Austausch mit renommierten Wissenschaftler*innen sowie Kolleg*innen aus Bund und Ländern zu den Themen Demokratie, Mitbestimmung und Landesverfassung.

Zu Beginn begrüßte unsere Fraktionsvorsitzende Astrid Rothe-Beinlich die Referent*innen und Zuschauer*innen: „Verfassungen regeln unser gesellschaftliches Zusammenleben und geben uns Politiker*innen den politischen Gestaltungsrahmen vor. Umso wichtiger ist es, regelmäßig zu diskutieren, ob bestimmte Bereiche der Verfassung überarbeitet und modernisiert werden müssen.“ Im Jahr 2020 haben wir im Thüringer Landtag einen Verfassungsausschuss eingerichtet, der die bestehende Thüringer Verfassung von 1993 überarbeiten, an Stellen verbessern und an die heutige Zeit anpassen soll. Laura Wahl, verfassungspolitische Sprecherin unserer Fraktion, leitete ebenfalls in den Tag ein: „Die Arbeit im Verfassungsausschuss kann ausgesprochen zäh sein. Im Zuge dieses Normgebungsprozesses wird tatsächlich um jedes Wort, um jede Bedeutung gerungen. Umso wichtiger ist es für uns, sich in diesem Bereich heute austauschen.“

Der Kongress startete mit einem Fachinput von Prof. Dr. Daniela Winkler (Universität Stuttgart). Darin erläuterte sie, welche Chancen und welchen Einfluss Landesverfassungen für die Entwicklung der Demokratie bieten und wie aus Landesparlamenten heraus zum Verfassungsdiskurs beigetragen werden kann. „Ich denke, dass man aus der Historie sehen kann, dass Verfassungen immer Abbildungen ihrer entstehungsgeschichtlichen Situation, aber auch wegweisend für das weitere Verständnis davon sind, was als ‚Recht‘ definiert wird. Landesverfassungen gehen auf politische Forderungen ein und ermöglichen so Erleichterungen sowie Ergänzungen zum Grundgesetz“, so Prof. Winkler. Sie betonte, dass Landesverfassungen den Bereich der direkten Demokratie stärken könnten. Das Grundgesetz für sich, kennt keine direktdemokratischen Verfahren. Landesverfassungen hingegen könnten hier einen Experimentierraum für direktdemokratische Verfahren schaffen, da sie leichter zu ändern sind. An den Inputbeitrag schloss sich die erste Paneldiskussion mit Prof. Dr. Daniela Winkler und Prof. Dr. Peter Bußjäger (Universität Innsbruck), moderiert von Laura Wahl, an. Sie diskutierten darüber, welche Chancen Landesverfassungen für die Entwicklung der Demokratie bieten und wie aus den Landesparlamenten heraus zum deutschen und europäischen Verfassungsdiskurs beigetragen werden kann. Prof. Dr. Bußjäger brachte die österreichische Sichtweise ein. Landesverfassungen definierte er als absolut notwendig für einen Bundesstaat. Er stimmte Prof. Dr. Winklers Aussage zu, dass Landesverfassungen Experimentierraum darstellen können. Schon in der Vergangenheit haben sie interessante Akzente gesetzt, bspw. in der Herabsenkung des Wahlalters bei Kommunalwahlen oder der Zulassung des Wahlrechts für Ausländer*innen. Es wurde ebenfalls die Möglichkeit eines Volksvetos diskutiert. Prof. Dr. Bußjäger beschrieb dieses als eine gute Option einer Verfassungsinnovation. Prof. Dr. Winkler hingegen argumentierte, dass ein Volksveto das Prinzip der repräsentativen Demokratie in Frage stellen könnte. Das Vertrauen in eine repräsentative Demokratie könnte hierdurch geschwächt werden und Gesetze so lediglich mit Verzögerungen eintreten. Das würde die parlamentarische Arbeit erschweren.

Nach der Mittagspause hielt Sebastian von Ammon (Staatssekretär des Thüringer Justizministeriums) ein Geleitwort. „Landesverfassungen sind dynamisch und müssen sich immer wieder den Herausforderungen der Moderne stellen“, betonte von Ammon. Den dringendsten Veränderungsbedarf sah er hinsichtlich der Klimakrise. „Wir haben einen klaren Auftrag für die künftigen Generationen hier etwas zu ändern. Für mich stellt sich die Frage: Sollen Umwelt und Natur in unserer Verfassung eigene Rechte erhalten, statt nur Staatsziel zu sein?“ 

Anschließend daran fand die zweite Paneldiskussion statt. Hier wurde die Frage „Wer gehört zum Landesvolk und wie sieht die Beteiligung aus?“ beleuchtet und von Prof. Dr. Peter Bußjäger, Jun.-Prof. Dr. Fabian Michl (Universität Leipzig) und Madeleine Henfling, innenpolitische Sprecherin unserer Fraktion, diskutiert. Sie sprachen unter anderem über die Herabsenkung des Wahlalters sowie die Einbeziehung ausländischer Staatsangehöriger und anderer bisher ausgeschlossener Menschen in das Wahlrecht. Prof. Dr. Bußjäger machte darauf aufmerksam, dass die Abänderung des Wahlrechts auf Landesebene nicht immer ganz einfach ist. „Das Verfassungsgericht hat 'Volk' als österreichische Staatsangehörige definiert. Das kann nur durch die Änderung der Bundesverfassung rückgängig gemacht werden, eine Novellierung der Landesverfassung reicht nicht aus“, erklärte er. Prof. Dr. Fabian Michl äußerte sich zu der Definition des „Landesvolkes“ und beschrieb es als keine natürliche Größe – sondern als rechtliches Konstrukt. Er betonte außerdem, dass es in Deutschland unterschiedliche Wege für eine Fortentwicklung der geltenden Rechtslage mit Blick auf die Definition des Wahlvolks gäbe. Zu den Anmerkungen von Prof. Dr. Bußjäger sagte er, dass eine Auseinandersetzung und Neuüberlegung zum „Ausländerwahlrecht“ von 1990 unumgänglich sei. Madeleine Henfling erklärte zur möglichen Absenkung des Wahlalters: „Eine Absenkung auf 16 Jahre würde durchaus mehr Bürger*innen einbeziehen und die Demokratie im Land weiter stärken. Ein Wahlrecht ab 14 muss darüber hinaus zumindest diskutiert werden. Dieses Alter ist in Verbindung mit der Strafmündigkeit sinnvoll.“ Im Anschluss an die Paneldiskussion wurden Fragen aus dem Publikum beantwortet und debattiert.

Nach einer kurzen Pause ging es in die dritte und letzte Paneldiskussion des Tages. Hier wurde über neue Formen der demokratischen Mitbestimmung gesprochen. Dazu wurde Prof. Dr. Andreas Glaser (Universität Zürich) digital zugeschaltet. Er sprach über die Arten der demokratischen Mitbestimmung in der Schweiz und gab einen Einblick in die unterschiedlichen demokratischen Formen, die auf Ebene der Kantonsverfassungen vorgesehen oder gerade diskutiert werden. Die Kantone in der Schweiz sind vergleichbar mit den Bundesländern in Deutschland. „Kantonsverfassungen in der Schweiz lassen einen breiten Spielraum für neue Formen demokratischer Mitbestimmung und brauchen immer die Zustimmung vom Volk – dies ist die einzige einheitliche Vorgabe des dortigen Bundesverfassungsrechts.“, so Prof. Dr. Glaser. Als neues Instrument für demokratische Mitbestimmung nannte er das Stimm- und Wahlrecht für bestimmte ausländische Staatsangehörige, welches in einigen Kantonen in der Schweiz bereits gelte. Außerdem hätten einige Schweizer Kantone bspw. ihr Wahlrecht für Menschen mit Behinderungen geöffnet und nutzten regelmäßig Kombinationen aus Volksinitiativen und Referenden für eine direkte Beteiligung. Diese Art der direkten Demokratie ist in Deutschland (noch) nicht möglich. Prof. Dr. Hans Vorländer (Technische Universität Dresden) beschrieb Deutschland als „föderal organisiert und zentralstaatlich orientiert“, weshalb es in der Schweiz mehr Möglichkeiten gibt, auf Ebene der Kantonsverfassungen neue direktdemokratische Verfahren einzuführen. „Volksentscheide wie in der Schweiz gibt es in Deutschland nicht. Was aber denkbar ist, ist ein sogenanntes konstruktives Referendum. Man lehnt etwas Bestimmtes ab, gibt dabei aber gleichzeitig Vorschläge und Ideen für Verbesserungen hinzu“, so Prof. Vorländer abschließend.

Die Veranstaltung endete mit einem Fazit von Laura Wahl: „Unser Kongress an einem so verfassungspolitisch relevanten Ort wie Weimar war nicht nur informativ, sondern bot vor allem die Möglichkeit, sich mit Kolleg*innen und Wissenschaftler*innen aus ganz Deutschland sowie Österreich und der Schweiz auszutauschen. Deshalb möchte ich die heutige Veranstaltung mit den Worten von Martha Nussbaum beenden: ‚Eine Verfassung hat die Aufgabe, dem Volk die für ein im vollen Sinne gutes menschliches Leben notwendigen Bedingungen zur Verfügung zu stellen. Sie hat Umstände zu schaffen, in denen jeder die Möglichkeit hat, in einer Weise tätig zu sein, die konstitutiv für ein gutes menschliches Leben ist‘.“

Wir bedanken uns bei allen Teilnehmer*innen für diesen konstruktiven und interessanten Austausch und den verfassungsrechtlich spannenden Tag!