Bericht aus dem NSU-Untersuchungsausschuss

Im öffentlichen Teil der Sitzung vom 23.04.2012 wurden die Sachverständigen Anetta Kahane (Amadeu-Antonio-Stiftung) Christina Büttner (ezra) Eric Henze Ovidio Almonacid Cerda Thomas Rausch Michael Ebenau (IG Metall) Matthias Müller (Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin - MBR) Katja Fiebiger (Mobit) Konrad Weiß (Publizist) Matthias Quent (FSU Jena) Dr. Rudolf van Hüllen (Dozent) Prof. Dr. Hajo Funke (FU Berlin) Dr. Dietmar Molthagen (Friedrich-Ebert-Stiftung) Peter Reif-Spirek (Landeszentrale für politische Bildung Thüringen) Prof. Dr. Wolfgang Frindte (FSU Jena) vernommen. Anetta Kahane (Amadeu-Antonio-Stiftung) Frau Kahane wies darauf hin, dass in Thüringen Verhältnisse entstanden, die als Modell zum Verständnis des modernen Rechtsextremismus gelten können. Es lag ein allgemeines Unterschätzen der Gefahren vor. Mitte der 90er Jahre gab es massive Übergriffe, wobei der THS „große Macht hatte“. Frau Kahane vertrat die Meinung, dass insbesondere das TLfV die Situation ignoriert habe und Herr Roewer ein Problem mit der Distanzierung von der rechten Szene hatte. Christina Büttner (ezra) Frau Büttner führte an, dass es ihrer Meinung nach keine Veränderung der Verhältnisse im Vergleich zu den 90ern gab. Insbesondere die Opfer, aber auch eventuelle Zeugen, haben einen erheblichen Vertrauensverlust in Rechtsstaat erlitten. Dies liegt u.a. daran, dass die Rechte den Eindruck von Dominanz erweckt. Eric Henze, Ovidio Almonacid Cerda, Thomas Rausch Die SV schilderten eindrucksvoll eigene Erfahrungen mit rechter Gewalt und Übergriffe auf entsprechende Einrichtungen und andere, aber auch die Erfahrungen, dass sie und ihre Anliegen von Behördenseite nicht ernst genommen oder gar als Teil des Problems oder als „Nestbeschmutzer“ angesehen wurden. Sie vertraten überwiegend die Ansicht, dass das Problem des Rechtsextremismus verdrängt oder negiert und dadurch verharmlost wurde, obwohl die Herausbildung rechter Strukturen und die Mehrung der Übergriffe auf der Hand lagen. Herr Henze verwies auf Nachfrage von Dirk Adams darauf, dass die Konzerte der rechten Szene und der CD - Verkauf eine erhebliche Einnahmequelle der rechten Szene darstellen und davon direkt Geld auch an untergetauchte Aktivisten gehen könnte. Michael Ebenau (IG Metall) Auch Herr Ebenau schilderte seine Erfahrungen, als er Anfang der 90er von Hessen nach Thüringen kam. Er war erstaunt, dass bereits damals Skinheads Gewerkschaftsveranstaltungen störten und die Veranstalter resignierend äußerten, dass die Polizei „eh nicht käme“. Er wies darauf hin, dass die Rechten bereits damals hervorragend vernetzt waren und die Behörden diese gewähren ließen. Auch er erlebte, dass Behörden die Gefahr verharmlosten, indem er die Rechten nicht stärker reden solle als diese tatsächlich seien. Nach Meinung der Behörden seien Rechts und Links gleich schlimm. Er stellte die interessante Frage, woher das Geld für die auffällig gleiche Kleidung und die Ausrüstung stammen und beantwortete diese mit den Namen der V-Leute Brandt und Dienel. Matthias Müller (Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin - MBR) Er schilderte die Situation, die er 2004 in Thüringen vorfand. Er vertrat die Ansicht, dass aus den Ergebnissen des „Thüringen Monitors“ keine Schlüsse gezogen werden. Außerdem werde man bei einem Engagement gegen „Rechts“ immer gleich in die linke Ecke gedrängt, was auch bei Bürgern zu einem Rechtfertigungsdruck führen könne. Auch er sieht eine Abwendung von der Demokratie und fand im Jahr 2004 wenig Engagement im Kampf gegen Rechts vor. Seiner Meinung nach dürfte die NSU größer sein als angenommen. Katja Fiebiger (Mobit) Frau Fiebiger sieht heute eine sehr differenzierte Szene in Thüringen, die vom Schläger bis zum Biedermann reiche. Menschen, die sich gegen Rechts einsetzen, werden oftmals als Nestbeschmutzer bezeichnet. Auch sie erkennt eine Verharmlosung des Problems von Behördenseite. Auch sie sieht ein Problem darin, dass ein Eintreten gegen Rechts immer gleich in die linke Ecke gestellt wird. Konrad Weiß Herr Weiß zeichnete ein eindrucksvolles Bild des Neonazismus in der DDR. Er bezeichnete die Hinwendung zum Neonazismus als die Zufügung des größtmöglichen Schmerzes gegenüber Staat und Eltern. Er sah bereits in der DDR eine Verharmlosung des Problems. Insbesondere soll der Neonazismus aus dem Westen importiert worden sein. Er war jedoch schon da. Herr Weiß wies jedoch darauf hin, dass insbesondere die Polizei nach der Wende in der Bekämpfung und vor allem in der Vorgehensweise gegen die Neonazis nicht erfahren, aber auch verunsichert war. Matthias Quent (FSU Jena) Herr Quent sieht eine quantitative und qualitative Radikalisierung der Neonazis in Thüringen in den 90er Jahren und damit einhergehend eine Steigerung des Selbst- und Sendungsbewusstseins. Als wichtigen Gesichtspunkt und einen Weg in die Szene aber auch der Radikalisierung sieht er dabei die Musik. Er wies deutlich darauf hin, dass einem Untertauchen von Aktivisten, meist die Radikalisierung folgt (siehe RAF). Gleichzeitig zeigte er auf, dass die Behörden von der Radikalisierung der Szene Kenntnis hatten. Das TLfV schätzte die Bedrohung falsch ein. Auch er geht von einer Verharmlosung des Problems in den 90ern aus, insbesondere aber auch von einer entpolitisierten Darstellung in den Medien. Er zeigte auch auf, dass das Werk „Bewegung in Waffen“, das eine Anleitung zum Untergrundkampf ist und nach dem die NSU vorgegangen sein kann, nach der Veröffentlichung 1992 den Sicherheitsbehörden zumindest Mitte der 90er bekannt gewesen sein muss. Man könne sich die Anleitung auch heute noch „mit 4 Mausklicks herunterladen“. Er sieht in der Ansicht, dass V-Leute die einzige Möglichkeit sind, das Problem zu bekämpfen, eine grobe Fehleinschätzung. Seiner Ansicht nach ist die Behauptung, dass die Behörden nichts wussten, die Unwahrheit. Dr. Rudolf van Hüllen Durch die Auswechslung von Teilen der Polizei und in anderen Behörden nach der Wende ging ein großer Teil des Wissens um den Rechtsradikalismus verloren. Er sieht auch in der unzureichenden Ausrüstung und dem möglicherweise damals noch nicht funktionierenden Justizsystem einen Teil des Problems. Jedoch vertritt er die Ansicht, dass ein Interaktionsprozess zwischen rechter und linker Gewalt vorliegt und verwies darauf, dass auch bei Autonomen menschenverachtende Ansichten vorkommen. Herr Van Hüllen ist der Ansicht, dass Neonazismus auch eine Form der Jugendkultur sei. Gleichzeitig lag in dem Vorgehen der NSU eine neue, nicht bekannte Form der Terrorismus vor, da sich niemand zu einzelnen Taten bekannte, so dass ein terroristischer Zusammenhang nicht erkennbar war. Jedoch war das Phänomen des „Leaderless Resistance“ bekannt, aber bei den neun Morden nicht gesehen. Er nimmt auch Fehler in der Zusammenarbeit zwischen Polizei und TLfV an. Aufgrund der Veröffentlichungspraxis der Ämter für Verfassungsschutz zeigt die Veröffentlichung über Vorgänge um dem THS und Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe, dass eine intensive Beschäftigung mit diesen Vorgängen vorgelegen haben muss. Prof. Dr. Hajo Funke (FU Berlin) Herr Funke sieht in der Umbruchsituation nach der Wende eine erhebliche Verunsicherung der „Kinder der Einheit“. Er geht von einer hochorganisierten rechten Szene in Thüringen durch THS, NPD und Blood & Honour aus. Er fand eine Dominanz der rechten Szene in Jena vor, die sich zunehmend radikalisierte, so dass rechter „Terror“ in Jena alltäglich war. Er sieht kein Aufschaukeln der Gewalt, also keine Interaktion, von Links und Rechts, jedoch wiederum eine Verharmlosung des Rechtsextremismus. Er nimmt an, dass in den Sicherheitsbehörden Schwerpunkte beim islamistischen Terror gesetzt wurden, so dass Rechtsextremismus nicht die oberste Priorität genoss. Dr. Dietmar Molthagen (Friedrich-Ebert-Stiftung) Herr Molthagen sieht die Ursachen insbesondere im individuellen Umfeld, insbesondere in Gewalterfahrungen, aber auch in autoritäre Erziehung einzelner. Für ihn lag 1998 eine reale Bedrohung durch Rechts vor. Für diesen ist auch entscheidend, dass die Täter mit ihren Aktionen erfolgreich waren und somit immer mutiger und dreister wurden. Zum Vorgehen und als Mittel der Erreichung der Ziele ist Gewalt auch immer eine Option. Peter Reif-Spirek (Landeszentrale für politische Bildung Thüringen) Nach Herrn Reif-Spirek wurde rechte Gewalt insbesondere von der Politik nicht wahrgenommen, das Problem verharmlost und den Opfern in vielen Fällen der „Schwarze Peter“ zugeschoben. Außerdem wurde rechte Gewalt entpolitisiert. Er sieht auch ein Gefühl von Macht bei den Rechten vorliegen. Er verweist auch darauf, dass in den Behörden auch ein bestimmter Blick auf die Gesellschaft und Einstellungen vorliegen, da z.B. die Ermittlungen unter dem Namen „Bosporus“ oder „Halbmond“ geführt wurden. Prof. Dr. Wolfgang Frindte (FSU Jena) Herr Frindte sieht ebenfalls eine mediale Verharmlosung des Problems und eine fatale Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus. Eine Möglichkeit, weshalb der „braune Terror“ von Jena ausgehen konnte, sieht er darin, dass sich dort rechte Strukturen relativ schnell etablieren konnten, da z.B. die Jüngeren von den Älteren geschult wurden.

Kontakt